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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel10. 1975 → Wie läßt sich die Schreibung der S-Laute vereinfachen?
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Wie läßt sich die Schreibung der S-Laute sinnvoll vereinfachen?

Sprachspiegel, , 31. jg., nr. 5, s. 138 bis 140, Rechtschreibreform

Die Diskussion über die Reform der deutschen Orthographie schlägt seit Beginn der siebziger Jahre wieder besonders hohe Wellen. Reformkommissionen arbeiten in allen vier deutschsprachigen Staaten; doch nicht immer werden Vorschläge mit dem Blick aufs Ganze vorgebracht, die für den gesamten deutschen Sprachraum annehmbar sind. Gott sei Dank, daß die Zahl derer, welche überhaupt keine Reform wünschen, die also reaktionär am Alten festhalten wollen, immer kleiner wird. Die Einsicht, daß „etwas geschehen müsse“, greift immer mehr um sich. Doch bezüglich des Umfanges der notwendigen Reformschritte gehen die Meinungen innerhalb der Reformer weit auseinander: die einen wollen – vielleicht in richtiger Einschätzung der Mentalität der betroffenen 100 Millionen Deutschsprechenden in aller Welt – maßvolle, wohlüberlegte, für jeden überschaubare Reformschritte; die anderen wollen in einer Art Kulturrevolution alles abschaffen, was dem Schreiber Schwierigkeiten bereiten könnte, bedenken aber dabei nicht, daß jeder Schreiber zugleich auch Leser ist, ja in der Regel vielmehr mehr Leser als Schreiber ist. Ich möchte meinen Standpunkt innerhalb der Reformbewegung so definieren, daß ich im bloßen „Abschaffen“ keinen Fortschritt zu erblicken vermag.

Eine der übelsten orthographischen Fallgruben, die frühere Generationen angelegt haben und die unseren Schülern – aber manchmal sogar uns selbst! – Schwierigkeiten bereiten, ist die S-Schreibung. Und gerade auf diesem Gebiete ist wohl am leichtesten und am raschesten Abhilfe und sinnvolle Vereinfachung zu schaffen. (Ausgeklammert werden soll hier die Heranziehung des Zeichens „s“ zur Darstellung des stimmlosen Sch-Lautes in deutschen Wörtern – sch, st, sp.) Die deutschen S-Laute und die dafür verwendeten Zeichen haben seit der Zweiten Lautverschiebung, also seit mehr als 1000 Jahren, eine sehr verwickelte Geschichte, deren letzte störende Auswirkungen nun endlich vereinfachend geklärt werden sollten.

Das Deutsche unterscheidet nicht zwischen eigenen Zeichen für den stimmhaften (linden) und den stimmlosen S-Laut, sondern verwendet das einfache S-Zeichen in stimmhafter oder stimmloser Funktion nach langen und kurzen Vokalen (rasen – raste – gerast; rasten – rastete – gerastet). Die stimmhafte oder stimmlose Aussprache ergibt sich aus der Stellung vor Vokalen (rasen) bzw. vor Konsonanten (Rast) und im Auslaut (das, bis).

Für das intervokalisch stets stimmlose S nach kurzen Selbstlauten steht uns im deutschen Regelsystem das Doppel-s zur Verfügung (fassen, Fässer). Einzig und allein das intervokalisch stets stimmlose S nach langen Selbstlauten läßt sich weder durch einfaches S noch durch Doppel-s ausdrücken (Straße, grüßen; auch nach Diphthongen: reißen), sondern wir müssen ein diakritisches Sonderzeichen schreiben, das in Österreich methodisch richtig „scharfes S“ benannt wird. (In Deutschland ist hiefür der veraltete Name „Eszett“ in Gebrauch, der noch aus der Zeit der Kurrentschrift stammt.) Es ist keine Schande, dass das Deutsche hier zu einem Zusatzzeichen außerhalb des Kanons der 26 Standardbuchstaben greifen muß, verwendet es doch selbst noch drei weitere Zeichen (nämlich die Umlaute); außerdem kommen viele andere Sprachen auch nicht ohne Sonderzeichen aus: die Cedille des Französischen (ç: Besançon) ist hier wohl das nächstliegende Beispiel.

So weit, so schön, so gut – und nun kommt der Haken: Das „scharfe S“ (ß), welches wir soeben als Vokallängenkennzeichen kennengelernt haben, wird in bestimmten (Auslaut-)Positionen widersprüchlich und willkürlich auch nach kurzem Vokal verwendet, z. B. die Fässer – das Faß. Es ergibt sich besonders beim Konjugieren der Verba ein ständiges „Pendeln“ zwischen ss und ß, z. B.: ich fasse, du / er / ihr faßt, wir / sie fassen; ich faßte, habe gefaßt (statt: fassen – fasste – gefasst). Dieser Hokuspokus bei der Umwandlung von „ss“ in „ß“ nach kurzen Selbstlauten muss endlich aufhören; es handelt sich dabei um eine Rechtschreibregel der Kurrentschrift. Als man im Jahre 1941 – also vor 34 Jahren! – von der Kurrentschrift zur Lateinschrift überging, hat man die besonderen Regeln der Kurrentschrift unbesehen auf die Lateinschrift übertragen – und dabei ist es ein Dritteljahrhundert geblieben. Gleichzeitig kann man daraus die langanhaltenden üblen Folgen einer mangelhaft überlegten Schreibreform erkennen – dies den radikalen Reformern als ständige Warnung und Mahnung!

Schon seit über 100 Jahren fordern verantwortungsbewusste Rechtschreibreformer die sogenannte „reduzierte ß-Schreibung“, welche das „scharfe S“ (ß) auf seine ureigenste Aufgabe beschränkt: die Kennzeichnung eines „scharfen“ (stimmlosen) S-Lautes nach langem Selbstlaut und nach Zwielaut; also: „Buße“, aber: „Busse“, „Floße: Flosse, Maße: Masse, Muße: Muse, Schloße: Schloss, kreißen: kreisen, reißen: reisen“.

Radikale Reformer wollen das Sonderzeichen „scharfes S“ (ß) aus dem Deutschen überhaupt entfernen und durch Doppel-s ersetzen, wie dies von schlampigen Maschinenschreibern, in der Schweiz und bei den Großbuchstaben bereits praktiziert wird (grüssen, GROSSHANDEL). Insbesondere auf die Schweiz können die Radikalen nicht genug hinweisen, weil sie als das Paradepferd einer „geglückten“ S-Reform hingestellt wird. Dabei vergisst mancher, dass dieser Reformschritt in der Schweiz bis heute umstritten geblieben ist und z. B. zwar die Zeitungen dieser „Reform“ folgen, kaum aber die Buchproduktion, die ja im ganzen deutschen Sprachraum abgesetzt werden soll.

Wie nicht anders zu erwarten, haben sich bei den Schweizern nunmehr in der zweiten Generation nach dem Verlust des „ß“ bereits merkliche Verunsicherungserscheinungen bezüglich der Vokallängen vor „ss“ eingestellt, die bei einer „Reform“ im Sinne der „SS-Schreibung“ (Verzicht auf „ß“ als Längenkennzeichen!) auf den gesamten deutschen Sprachraum übergreifen würden. – Ich habe an einer ganzen Reihe von Wörtern zeigen können, dass sich die Lautung selbst in gepflegter Umgangssprache eher nach Analogieschlüssen aus der Schreibung richtet als nach Vorschriften für die Bühnenaussprache (wer war schon im Wartezimmer des „Aarztes“ der „eerste“??). – Schon die gegenwärtige widersprüchliche „ß-Regel“ (ß statt ss im Auslaut!) ist keine geeignete Aussprachestütze: neben Verunsicherungen bei mehreren Wörtern ist die Sonderentwicklung bei der vom „Österreichischen Wörterbuch“ bereits anerkannten stammlangen Aussprache des Wortes „Geschoß – Geschoße“ (vornehmlich in der Bedeutung „Stockwerk“) nachweislich auf die heutige ß-Schreibung zurückzuführen. – Die Abschaffung des Längenzeichens „ß“ und sein widersprüchlicher Ersatz durch das Kürzezeichen „ss“ ist daher kein tauglicher Vorschlag zu einer Rechtschreibreform.

Weiters wäre bei völliger Ersetzung des „ß“ durch „ss“ eine andere Forderung der „Reformer“, die Sprechsilbentrennung, undurchführbar! Die korrekte Sprechsilbentrennung „Stra-ssen und Gas-sen, Grü-sse und Küsse“ ist schulmethodisch unzumutbar – „Stras-sen und Gas-sen, Grüs-se und Küs-se“ sind aber (nach Langvokal) keine Sprechsilben: „Stras-se, Grüs-se“ können als Silben nicht gesprochen und daher auch von keinem Menschen (Schüler!) gehört werden. – Man kann also erkennen, dass die „Reformer“ nicht einmal in der Lage sind, alle ihre eigenen „Vorschläge“ zu überblicken.

Geradezu beklemmend wäre die schlagartige Vermehrung der s-Zeichen an der Kompositionsfuge: man denke an „Grossstadt“ (statt „Großstadt“) oder „MASSSTAB“, ja wie manche „Reformer“ sogar (zur Unterscheidung von „masse“ und „maasse“!) fordern: „Maassstab, MAASSSTAB“ (4 Zeichen für 2 Laute, statt einfach „Maßstab, MA3STAB). Durch die „reduzierte ß-Schreibung“ würden ohnehin genug S an der Kompositionsfuge zusammentreffen, für die dann die Regel „Kongressaal / Kongress-saal / Kongress-stadt“ angewendet werden könnte.

Völlig indiskutabel ist die von Jakob Grimm in seinem „Deutschen Wörterbuch“ durchgeführte Ersetzung des ß durch sz (strasze, auszen). Jakob Grimm favorisierte diese Schreibung zur Vermeidung von Dreifach-Konsonanten an der Kompositionsfuge (miszstände, stoszseufzer), dachte dabei aber nicht an problematische Schreibungen wie „Stoszzahn“ und der Schule unzumutbare Sprechsilbentrennungen wie „au-szen, aber: Aus-zug“. – In unserer Zeit des Computereinsatzes im sprachlichen Bereich ist die Grimmsche sz-Schreibung völlig obsolet geworden, weil sie sinnvoller alphabetischer Sortierung von Wortmaterial im Wege steht – aber das konnte Jakob Grimm vor 120 Jahren nicht wissen!

Wie würde ein Computer „Stoßseufzer, Stoßzahn“ wohl auflösen? Nun, ganz einfach: „Sto/3seufzer, Sto/3zahn“. Damit haben wir auch einen Hinweis, wie sich die Schreibung des „scharfen S“ (ß) weiterentwickeln könnte. Verknöcherte Rechtschreibreformer weisen nämlich, um die Abschaffung des „scharfen S“ (ß) zu motivieren, darauf hin, dass viele Schreibmaschinen kein eigenes Zeichen dafür haben, weshalb man zu „ss“ (oder „s“, „sz“) greifen müsse. Im Ausland ist man unseren „Reformern“ diesbezüglich schon weit voraus und nimmt beim Maschinenschreiben „3“ für fehlendes „ß“ (Stra3e, grü3en, rei3en; MA3STAB, GRO3HANDEL).

Eine moderne, zukunftweisende „reduzierte ß-Schreibung“ könnte also schon bald Wirklichkeit werden, wenn die verantwortlichen Kulturpolitiker auf Grund der angebotenen wissenschaftlichen Entscheidungshilfen einen sachbezogenen Entschluss fassten.

(Kurzfassung der ausführlichen Untersuchung desselben Verfassers: „Am Falle ‚S-Regel‘ – österreichisches Modell einer Rechtschreibvereinfachung“; in: „Österreich in Geschichte und Literatur“, XVIII. Jahrgang 1974, Heft 1, S. 19–57. – Dieser Aufsatz ist in Fortsetzungen nachgedruckt in der „Stenografischen Rundschau“ [D-4409 Buldern] Nr. 11/1974 bis Nr. 4/1975 [mit Nachtrag in Nr. 5/1975]. – Teilweise Vorgriff auf die Arbeit: „Nochmals ‚S-Schreibung‘ – Ergänzungen und Diskussionsergebnisse“; in: „Österreich in Geschichte und Literatur“, XIX. Jahrgang 1975, Heft 1, S. 1178.)